Automatische Handelssysteme für sein Trading einzusetzen, ist heute längst nicht mehr so aufwendig und speziell wie noch vor ein paar Jahren. Die technologische Entwicklung hat auch diesen Sektor revolutioniert. Die Idee, ein automatisches Handelssystem einzusetzen, hat ihren Reiz. Der Trader spart enorm viel Zeit, überlässt die Ausführung von Handelsentscheidungen der Software und vermeidet dadurch Stress und Fehler. In diesem Artikel mache ich mir ein paar Gedanken über das Für und Wider beim Einsatz von automatischen Handelssystemen.
Technologie umgibt uns in vielen Bereichen des Lebens. Tendenz steigend. Wieso sollte Trading davon ausgenommen sein? Tatsächlich ist der Gedanke, automatische Handelssysteme für sein Trading zu nutzen, schon seit vielen Jahren Realität. Ich habe mich Anfang der 2000-er Jahre das erste Mal damit beschäftigt. Damals gab es erste Versuche in diesem Bereich. Diese waren allerdings mit viel Aufwand und überdurchschnittlichen Kenntnissen bei Software und Programmierung verbunden. Außer ein paar Erfahrungen habe ich damals keinen Benefit daraus gezogen.
Automatische Handelssysteme: Der Einstieg war noch nie so einfach wie heute!
Heute ist der Einstieg in das Thema automatische Handelssysteme sehr einfach. Die vorhandenen Tools sind beinahe von jedem verwendbar – auch ohne tiefere Kenntnis über die Software. Aber ist es überhaupt möglich, die eigenen Fähigkeiten und Erfahrungen mittels eines programmierten Tools zu ersetzen?
Charttechniker der alten Schule und Puristen werden antworten, dass es ist nicht machbar ist. Es kommt wie immer darauf an, was man will und vor allem, was man bereit ist, an persönlichem Engagement und Zeitaufwand einzubringen.
Die Menge der verfügbaren Finanzdaten ist heutzutage riesig. Und es kostet kein bis sehr wenig Geld, diese Daten zu erhalten. Man kann den Preis-Feed direkt über eine Anwendungsprogramm-Schnittstelle (API) erhalten. Das ist ein gewaltiger Fortschritt gegenüber früher.
Automatische Handelssysteme treffen Entscheidungen schneller und eindeutiger!
Klar ist auch, dass Computerprogramme mit ihrem binären Entweder-Oder-Grundgerüst bei schnellen Entscheidungen viel besser sind als Menschen. Wenn ich als Trader in der Lage bin, Setups zu identifizieren, dann kann ein Computer das natürlich auch und sogar viel besser und schneller. Das betrifft mittlerweile nicht nur die technische Analyse. Auch Fundamentaldaten kann ein Computerprogramm viel schneller auswerten und in Sekunden einen Gesamtüberblick über ein Unternehmen bieten anhand seiner Fundamentaldaten.
Aber zurück zur technischen Analyse einer Aktie. Es geht dabei um das Studium von Charts. Charts spiegeln das Verhalten sämtlicher Marktteilnehmer in einer Aktie oder einem Index wider. Und weil Marktteilnehmer Menschen sind, die sehr oft Gruppenzwang und Herdentrieb erliegen und auch oft die gleichen Nachrichten erhalten und in ihrem Verhalten von ihren sozialen und gesellschaftlichen Präpositionen geleitet werden, führt das zwangsläufig zu Mustern und deren Wiederholung.
Automatische Handelssysteme: Es geht um Mustererkennung!
Dasselbe finden wir bei Indikatoren. Ein Indikator ist eine mathematische Funktion, die meistens auf Vergangenheitsdaten beruht. Wir schließen aus diesem Blick zurück auf künftige, ähnliche Entwicklungen in Bezug auf den Preis einer Aktie oder eines Index. Was wir also suchen, sind Muster aus der Vergangenheit, die sich mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit in der Zukunft wiederholen. Eine automatisch agierende Handelsstrategie kann diese Muster viel schneller und genauer erkennen als der Mensch und sie vorurteilsfrei handeln. Vorurteilsfrei deshalb, weil ein Handelssystem hat kein emotionales Gedächtnis und keine soziale Prägung, die seine Urteile beeinflussen. Es kennt keine Angst und keine Gier und auch keine Vorurteile und individuelle Maßstäbe – sogenannte Bias – nach denen es arbeitet.
Ein Handelssystem hat kein emotionales Gedächtnis und keine soziale Prägung. Es kennt keine Angst und keine Gier. Es vergleicht lediglich Daten und sucht Muster.
finlog
Es geht bei dieser Diskussion explizit nicht um „black box“-Systeme. Bei diesen kauft der Trader ein von Dritten programmiertes System und setzt es für sein Trading ein. Was im Marketing-Sprech so verlockend und einfach klingt, birgt aber einen riesigen Nachteil: Ich weiß bei einem black box-System nicht, was drin ist. Ich verlasse mich auf die Backtesting-Ergebnisse der Anbieter dieser Handelssoftware. Ich habe keine Möglichkeit, etwas zu ändern oder einzustellen. Vor dem Einsatz solcher Systeme warne ich.
Mehr Zeit, mehr Geld, mehr Freiheit?
Wobei es mir beim Einsatz von automatischen Handelssystemen geht, ist der Gedanke der Arbeitserleichterung und der damdurch gewonnenen Zeit für mich und dem Aspekt der emotionslosen Aktion. Wo ich als Trader stundenlang vor dem Monitor sitze, um geeignete Setups für meine Trades zu finden, erkennt das Handelssystem diese durch permanente Überwachung der von mir gewählten Underlyings anhand der programmierten Einstellungen.
Wo ich eventuell Zweifel habe und zögere bei der Umsetzung der von mir erkannten Setups, handelt die Software ohne „nachzudenken“. Was ich dafür tun muss ist, dem Handelssystem meine Regeln darzustellen, wann und wie ich Trades eröffnen und schließen will. In der Endkonsequenz ist das automatische Handelssystem quasi mein Assistent. Nur dass es billiger ist, nicht krank wird und auch keinen schlechten Tag im Büro hat. Und weniger kostet.
Daytrading ohne automatische Handelssysteme zu betreiben ist langfristig gesehen Glücksspiel!
Im Kurzfristhandel macht es meiner Meinung nach überhaupt keinen Sinn mehr, individuell zu handeln. Mit Kurzfristhandel meine ich alle Transaktionen, die intraday durchgeführt werden. Dazu zählen Hochfrequenzhandel, Arbitragehandel, Scalping und das Trading im 5- oder 20-Minuten-Chart. Wer mal längere Zeit mit Intraday-Trading verbracht hat, weiß um die Erfordernisse bei diesem Geschäft:
- hohe Konzentration über Stunden
- permanentes Abwägen von Situationen
- die Fähigkeit, Entscheidungen in kürzester Zeit treffen zu können
- Charts manuell zu „scannen“ und zu beurteilen
- die Fähigkeit, blitzschnell zwischen Risikobereitschaft und Risikoaversion zu wechseln regelmäßiges mentales Umschalten von Aktion zu Reflexion
- zu erkennen, wann es besser ist, den Handel für den Tag einzustellen
- usw.
Je kürzer der Zeitrahmen, in dem ich als Trader agiere, umso größer die Vorteile von automatischen Handelssystemen. Ist mein Zeitrahmen wiederum groß genug und kann ich alle individuellen Entscheidungsmöglichkeiten selbst beurteilen und falsifizieren, dann benötige ich kein automatisches Handelssystem, um erfolgreich zu handeln.
Ein automatisches Handelssystem handelt immer. Ohne Pause. Aber auch, ohne sich selbst zu überprüfen. Das heißt in der Praxis oft, dass auf sehr schnell anwachsende Gewinne sehr böse Drawdowns folgen können. Da Kurse an den Märkten von Menschen (und Maschinen) gemacht werden, können sich Rahmenbedingungen auch sehr schnell ändern. Eine Zinsänderung über Nacht oder ein Virus, dass keiner ernst nimmt, kann kein Computer „ahnen“. Erfahrene Marktteilnehmer können das. Sie können einen Markt „lesen“. In solchen Fällen können wir mit unserer Gabe, Situationen individuell einschätzen zu können, einen Vorteil gegenüber Computern haben. Unsere Einschätzungen können natürlich auch komplett falsch sein, aber wir verfügen über dieses Instrument. Ein Computer kann das nicht.
Was ich machen kann, um solchen „fat tails“ wenigstens etwas gerecht zu werden ist, bestimmte „Katastrophen“-Befehle in mein Handelsprogramm einzubauen. Ich kann zum Beispiel Stop-Loss-Limits für jeden Trade festlegen, so dass eine Position bei 5% Verlust geschlossen wird. Vorstellbar ist auch, dass mein Handelssystem komplett herunterfährt, wenn der Drawdown einen bestimmten (Tages)Wert überschreitet.
Ein automatisches Handelssystem macht das, was ich ihm „sage“, also wie es programmiert ist. Es ist nicht flexibel. Es verfügt auch nicht über das, was wir als „unser Bauchgefühl“ bezeichnen. Und unser Bauchgefühl ist nichts, was man ignorieren sollte. In erstaunlich vielen Fällen ist eine Entscheidung aus dem Bauch heraus genau richtig. Forschungen auf dem Gebiet der kognitiven Verzerrungen und der Entscheidungsfindung haben längst bewiesen, dass man mit schnellen Bauchentscheidungen sehr oft zu den selben Ergebnissen kommt wie bei Entscheidungen mit ausreichender und sorgfältiger Prüfung. Mehr dazu kannst du in meinem Artikel über Daniel Kahnemans Buch „Schnelles Denken, langsames Denken“ lesen.
Der große Selbstbetrug: Backtesting, bis es passt!
Aufpassen muss man auch bei übermäßigem Backtesting. Wie der Name schon sagt, testet man beim Backtesting, wie das Handelssystem in der Vergangenheit funktioniert hätte. Um optimale Ergebnisse zu erzielen, kann man leicht dazu verführt werden, die Strategie so lange an die historischen Daten anzupassen, bis das beste Ergebnis erzielt wurde. Meistens meinen wir damit den größten Gewinn. Viele achten bei dieser Überoptimierung ausschließlich auf die Gewinnseite des Handelssystems und vernachlässigen den Blick auf den Drawdown, was natürlich zu völlig verzerrten Ergebnissen führt, die in der Praxis nicht durchgehalten werden können. Die Performance eines automatischen Handelssystems über 10 Jahre von 558 % klingt super, aber wenn es in dieser Periode einen maximalen Drawdown gab von minus 80 %, dann möchte ich den Trader sehen, der das ohne mit der Wimper zu zucken durchzieht und seinem System treu bleibt.
Monte-Carlo-Simulation für automatische Handelssysteme verwenden!
Besser als eine Strategie im Rückblick zu testen ist es, diese „vorwärts“, also für eine mögliche Zukunft, zu testen. Die Betonung liegt auf „mögliche Zukunft“. Dazu benutzt man einen Monte-Carlo-Simulator, der Zufallspreise für das nächste Jahr generiert. Man kann mit einer Monte-Carlo-Simulation eine unbegrenzte Anzahl von möglichen Zukunftsszenarien testen. Klingt ein bisschen wie Science Fiction, liegt aber näher an der Realität, als sich auf Daten aus der Vergangenheit zu fokussieren.
Tipp für die Programmierung von automatischen Handelssystemen!
Für die meisten, die sich für den Einsatz von automatischen Handelssystemen interessieren, ist das Coding wahrscheinlich die größte Hürde. Um es auszuprobieren, bietet sich TradingView an. Es verfügt über eine sehr einfache Skriptsprache, die ohne Erfahrungen in der Programmierung verwendet werden kann. Sie ist sehr unkompliziert und kann als eine Art „Schnupperkurs“ in den automatisierten Handel bezeichnet werden. Wenn das nicht ausreicht, findet man auf Plattformen wie UpWork oder Fiverr gute Programmierer für überschaubares Geld, die ein Handelssystem nach Vorgabe programmieren können.
Wie gehe ich vor, wenn ich ein automatisches Handelssystem einsetzen möchte?
Ist die getestete Strategie fertig, sollte man eine ausreichend lange Phase mit Papertrading und Live-Börsendaten anschließen. Der Test findet dann schon in der echten Börsenumgebung statt, aber eben nicht mit echtem Geld. Vor allem sollte man in dieser Phase darauf achten, dass das automatische Handelssystem reibungslos arbeitet und keine Bugs auftreten.
Mein Fazit zum Einsatz von automatischen Handelssystemen!
Ich persönlich nutze derzeit keine automatischen Handelssysteme, aber das Thema lässt mich nicht los, wie man an diesem Artikel sehen kann. Der Gedanke, dass ein Assistent für mich arbeitet, während ich im Museum herumschlendere oder mit einem Kaltgetränk am Strand sitze, ist reizvoll. Denn Zeit ist die wertvollste Ressource. Wenn man Zeit so verbringen kann, wie man möchte, ist das die höchste Form von Lebensqualität, die man erreichen kann. Und wenn ich Tools verwenden kann, die mich diesem Ideal näher bringen, ist das grundsätzlich interessant für mich.
Wie immer besteht aber unser Handels im Leben aus Gegensätzen. Gegensätze, die sich gegenüberstehen und erst einmal unvereinbar sind. Konkret bedeutet das in diesem Fall, dass ich erst sehr viel Zeit investieren muss in den Aufbau und das reibungslose Funktionieren eines automatischen Handelssystems, um später davon zu profitieren in dem Sinne, dass ich viel mehr Zeit habe, um mich anderen schönen Dingen zu widmen.
Und auch das ist klar: Es gibt keine Garantie auf Gewinne! Niemals! Auch nicht durch den Einsatz eines automatischen Handelssystems. Zukunft ist immer unbekannt. Das schließt alles ein, was damit zusammenhängt. Was wir tun können ist, Wahrscheinlichkeiten über mögliche Zukunftsszenarien abzuwägen. Und dabei kann ein automatisches Handelssystem gute Hilfestellung leisten.
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