Börsen Psychologie

Die Kunst, nichts zu tun an der Börse!

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In einem so reifen Bullenmarkt wie diesem und gepusht durch viele neue Privatanleger, die das Börsenparkett stürmen, spielt eine Sache definitiv nur eine kleine Nebenrolle: Das „Nichtstun“ an der Börse. Anleger, die schon länger dabei sind, wissen natürlich, dass die Kunst, nichts zu tun an der Börse eine notwendige, aber auch eine der schwersten Disziplinen ist. 

Ich habe viele Jahre gebraucht, um zu lernen, dass Nichtstun an der Börse in vielen Fällen das Beste ist, dass man als Anleger tun kann. Es hat bei mir bestimmt 15 Jahre gedauert, bis ich das vollständig verstanden habe. Nichtstun an der Börse ist vielleicht die wichtigste Lektion über das Investieren, die ein Anleger lernen kann. Wenn es nichts zu tun gibt, sollte man nichts zu tun. Oder wie der Sprachphilosoph Ludwig Wittgenstein in einem anderen Kontext sagte:

„Und worüber es nichts zu sagen gibt, darüber soll man schweigen.“

Ludwig Wittgenstein

Eigentlich ganz einfach. Und doch so schwer.

Ein guter Plan sagt dir auch, wann es nichts zu tun gibt an der Börse!

Die Frage, die sich hier unmittelbar stellt, lautet natürlich: Wie kann ich feststellen, dass es nichts zu tun gibt? Wie komme ich zu der Schlussfolgerung, dass mein Portfolio gut aufgestellt ist und keinerlei Anpassungen benötigt? Die Antwort ist: Weil ich einen Plan für meine persönlichen Befindlichkeiten bezüglich meines Depot erstellt habe – und das vor der ersten Investition. Und weil ich weiß, dass dieser Plan für mich funktioniert. Weil ich mich mit meinem Plan sicher fühle. Weil ich das Risiko so gewählt habe, dass selbst ein größerer Rückgang an den Finanzmärkten mich nicht finanziell und mental nach hinten wirft. Weil ich genügend Cashreserven habe, um die eventuell auftretenden Buchverluste in meinem Depot in aller Ruhe aussitzen zu können. Weil ich weiß, dass ich durch diese komfortable Cashreserve die Möglichkeit habe, neue Positionen zu eröffnen oder bestehende nachzukaufen. 

Der Weg zu dieser abwartenden, beinahe Zen-orientierten Betrachtungsweise der Finanzmärkte und meines eigenen Portfolios ist allerdings alles andere als einfach. Die Psyche und die persönliche und gesellschaftliche Prägung und unsere evolutionäre Entwicklung sorgen dafür, dass es bedeutend lukrativer erscheint, proaktiv zu handeln. Wer inaktiv ist, ist irgendwie langweilig und uncool. Derjenige begibt sich in eine passive, duldsame Position. Mit dieser Einstellung kann man nur verlieren. Im „normalen“ Leben mag das zutreffen. Das Ungewohnte ist, dass an der Börse genau diese Eigenschaften belohnt werden. 

An der Wall Street wird Aktivität belohnt. Meine Aktionäre und ich werden für Inaktivität belohnt.

Guy Spier, Die Lehr- und Wanderjahre eines Value Investors

Ein Ratschlag von Warren Buffett, der pures Geld wert ist!

Warren Buffett hat bei einem Vortrag vor Studenten einmal den folgenden Rat erteilt: Es wäre für die Masse der Anleger bei weitem die bessere Vorgehensweise, wenn sie am Anfang ihrer Börsenkarriere eine Lochkarte mit 20 quadratischen Feldern hätten. Ein Feld entspricht dabei genau einer Börsentransaktion. Das heißt, du hast nur 20 Gelegenheiten im ganzen Leben, aktiv bei deinen Investments zu werden. Man muss kein Hellseher sein, um zu ahnen, dass sich jeder mit so einer Lochkarte seine Investitionsideen drei Mal überlegen würde, bevor er den Execution Button drückt.

Würde das zu besseren Investitionen führen? Keine Ahnung, aber es spricht vieles dafür. Würde es die Lebensqualität dieses Börsenteilnehmers verbessern? Auf jeden Fall! Würde es den Broker oder die Bank glücklich machen, wenn nur 20 Transaktionen im ganzen Leben vorgenommen werden? Definitiv nicht.

An der Börse wird oft belohnt, wer nichts tut!

Fakt ist, dass nichts zu tun vielleicht sogar das Schwierigste ist, was man tun kann. Wie eben erwähnt, sind wir Menschen darauf konditioniert, etwas zu tun. Uns weiter zu bewegen. Ein Ziel zu erreichen. Durchsetzungsvermögen beweisen. Anderen zeigen, dass wir stärker, ausdauernder und mutiger sind. Wir wollen das Gefühl haben, proaktiv zu sein. Proaktiv sein heißt, sich und seine Position in der Gesellschaft zu verteidigen und immer weiter zu verbessern und auszubauen. Proaktiv sein erfordert, etwas zu tun, auch wenn es nichts zu tun gibt. Wer rastet, der rostet. Bloß nicht stehen bleiben. Bewegung nach vorne – das ist das Mantra unserer Zeit. 

Es erfordert also ein hohes Maß an Disziplin, dem Drang zu widerstehen, etwas zu tun und sich zum Nichtstun zu verpflichten. Nichts zu tun erfordert sehr viel Kraft und Mut zum Denken abseits der Masse. Wir fühlen uns meistens schlecht, wenn wir nichts tun. Wir haben das Gefühl, dass da noch mehr möglich wäre. Wäre ich doch nur aktiver gewesen – das sagen wir uns oft. Wir denken dabei ausschließlich daran, dass wir durch proaktives Handeln etwas gewinnen können. Wir ziehen überhaupt nicht in Betracht, dass wir durch proaktives Handeln auch viel verlieren können. Und das wir entsprechend auch gewinnen können, indem wir nichts tun. Indem wir den Dingen ihren Lauf lassen. 

Nichts tun an der Börse ist oft das proaktivste, dass man tun kann!

An der Börse ist in dieser Hinsicht die Verpflichtung, nichts zu tun, wahrscheinlich die proaktivste Sache, die man tun kann. Am besten illustriere ich diesen Unterschied an der unterschiedlichen Definition von „Investition“ gegenüber „Spekulation“.

Wenn wir investieren, versuchen wir, Kapital in eine Operation zu investieren, die das Potenzial hat, eine hohe Rendite auf diese Investition zu liefern. Wenn es keine solche Gelegenheit mit der erforderlichen „Sicherheitsmarge“ gibt, dann ist es das Beste, „nichts zu tun“.

In jedem Fall sind Nichtstun und Geduld fast immer die ratsamste Handlungsweise für Investoren am Aktienmarkt. Deshalb finde ich es auch besser, nicht jeden Tag meine Aktienkurse zu checken (oder jede Woche), weil es dann schwieriger ist, langfristige Ziele zu verfolgen.

Guy Spier, Die Lehr- und Wanderjahre eines Value-Investors

Wir würden nicht zu viel für eine Immobilie bezahlen. Oder eine neue Kücheneinrichtung. Oder ein Auto. Wir suchen nach dem besten Preis für alles, vom Fernseher bis zur Urlaubsreise. Wenn es jedoch um Investitionen geht, schmeißen wir diese Angewohnheit oft über den Haufen. Warum sollten wir einen beliebigen Preis für einen zukünftigen Strom von Cashflow zahlen?

Eine andere Art, darüber nachzudenken, ist die Erkenntnis, dass die große Mehrheit der Fehler, die Investoren machen, aus dem Gefühl heraus entstehen, etwas tun zu müssen, also proaktiv zu sein, anstatt einfach geduldig zu warten und auf eine wirklich fantastische Gelegenheit zu reagieren. Wir sind dazu „verdammt“, etwas zu tun, um uns gut und nützlich zu fühlen und um uns genügend Anerkennung zu verschaffen – eben weil wir etwas getan haben. 

Sozialer Druck und Neid sind die größten Feinde des klugen Investors!

Wir reagieren nicht auf eine echte Gelegenheit, wir reagieren auf sozialen Druck oder Neid. Heutzutage ist es einfach festzustellen, dass Hinz und Kunz aus unserer Instagram- oder Twitter-Blase eine Aktie im Depot hat, die rennt und rennt und deren (Buch)Gewinne sich hochstapeln. Die sozialen Medien sind bei der ohnehin schon schwierigen Mission, einen klaren Kopf beim Investieren und beim Vermögensaufbau zu bewahren, eine absolut kontraproduktive Beimischung.

Wir sehen, wie unser „Nachbar“ mit den hot shots im Tech-Sektor oder mit fix & flip-Wohnimmobilien oder mit Call-Optionen auf Gamestop gerade ein Vermögen macht. Wir fühlen uns klein gegenüber diesen Power-Typen, die immer etwas tun und die durch ihr immer währendes Tun (scheinbar) einen Gewinner nach dem anderen aus dem Hut zaubern. Wir fühlen uns dann unbedeutend, ängstlich und ein bisschen wie Amateure. 

Sich mit anderen Börsenteilnehmern zu vergleichen, führt zu verzerrter Wahrnehmung der eigenen Erfolge und dazu, den eigenen Plan zu missachten!

Die Performance von anderen Börsenteilnehmern zu sehen, führt dazu, dass wir uns – ob wir wollen oder nicht – daran messen. Menschen neigen dazu, sich permanent mit anderen zu vergleichen. Das mag im normalen Leben – Arbeit, Sport u.a. – ab und zu noch Sinn ergeben, aber an der Börse ist es das Schlimmste, was man machen kann. Es führt dazu, dass die eigene Performance anders bewertet wird. Das die Perspektive auf unsere eigenen Erfolge verzerrt wird. Nicht mehr der persönliche Maßstab spielt dann eine Rolle, sondern unbewusst rückt der Maßstab von anderen in unseren Fokus. Diese verzerrte Sichtweise führt dazu, dass wir unsere Performance auf einmal viel schlechter beurteilen, als sie ist. Dass wir Überlegungen anstellen, warum wir nicht so gut abgeschnitten haben im letzen Jahr als einige andere. 

Wir kommen dann zu dem Schluss, dass wir aus dieser Situation nur herauskommen, wenn wir es den Vorbildern in unserer Wahrnehmungsblase gleichtun und ebenfalls alles auf eine Karte setzen. Wir wollen so sein wie sie. Wir wollen dazugehören. Bloß nicht der Loser sein, der nichts Aufregendes zu berichten hat. 

Gruppenzwang und Herdentrieb führen an der Börse zu Stress und emotional inspirierten Investments!

Es ist unser „Schicksal“ als soziale Wesen, dass wir uns schlecht fühlen, wenn wir etwas anders gemacht haben als diejenigen, die wir bewundern und denen wir nacheifern. So logisch das alles in einer Umgebung klingt, die nichts mit finanziellen Aspekten oder mit der Börse zu tun hat, so selbstzerstörerisch ist das für uns als individuelle Anleger. Es ist der Beginn einer Spirale, die zu erhöhtem Stress, permanentem Vergleich mit anderen und im schlimmsten Fall zu völlig emotionalen, abseits jeder Vorgabe befindlichen Aktionen bei unseren Investments führt. Mehr zu Herdentrieb und Gruppenzwang kannst du in diesem Artikel lesen!

Alles hat zwei Seiten: Kein Trader oder Investor gewinnt immer!

Was wir in solchen Momenten der Unsicherheit nicht vergessen sollten, ist folgendes: Es mag für eine Weile so aussehen, als würden diese coolen Investoren Geld machen. Als wäre es ein Kinderspiel. Und weil es so leicht aussieht, ist es wahrscheinlich auch ganz leicht. Könnte man denken. Was in diesen Momenten keiner weiß und worüber auch keiner spricht, ist die Tatsache, dass es ebenso viele Geschichten darüber gibt, was passiert, wenn der unvermeidliche Crash in einer einzelnen, gehypten Aktie das Kapital von gutgläubigen Investoren in wenigen Augenblicken verdampfen lässt. 

Nur wenige berichten in den sozialen Medien über ihre Flops. Alles soll cool aussehen. Alle sind Gewinner. Alle sind stylisch. Alle haben Gel in den Haaren und schlendern am Strand entlang. Aber man sollte auf diese Selbstinszenierungen nicht hereinfallen und einen kühlen Kopf bewahren. 

Wer sich mit der Performance von anderen vergleicht, hat schon verloren, bevor das Spiel beginnt!

Wer auf die Performance von anderen schaut, hat schon verloren, bevor das Spiel begonnen hat. Nur du bist deine eigene Benchmark. Kein S&P 500 Index, kein Nasdaq oder eine einzelne Aktie – nur du bist das Maß aller Dinge. Du allein beurteilst dein Ergebnis nach dem Einsatz, den du bereit bist zu zahlen und nach dem Risiko, dass du bereit bist einzugehen. 

Keine andere Person sollte dir bei der Beurteilung deiner Leistung oder deiner Performance in deinem Aktiendepot in die Quere kommen. Beurteile deine Ergebnisse danach, ob sie für dich eine persönliche Weiterentwicklung darstellen und ob du dich in der Zeit, in der du daran gearbeitet hast, wohl gefühlt hast. Das ist der einzige Maßstab, der zählt. Deine Idee für ein Investment, dein Risiko, dein Erfolg oder dein Misserfolg. That’s it!

Aufgrund der außergewöhnlichen Umstände in der Welt, der Politik, der Wirtschaft, der Geldpolitik und vor allem der permanenten Competition in den sozialen Medien, die zum regelmäßigen Wettbewerb und Vergleich mit anderen einladen, besteht derzeit noch mehr als üblich der Drang, etwas zu tun. Aktiv sein, beweglich sein, mutig sein – dieser Zwang ist größer als sonst. 

Aber wenn es einfach keinen Sinn macht, Geld in eine Aktie zu stecken, die nicht die nötige Rendite abwirft und die beim Einkauf nicht über die nötige Sicherheitsmarge verfügt, dann sollte der kluge Investor so mutig sein, dass er das erkennt und danach handelt. Indem er nicht handelt. Dass er nichts tut. Nicht aktiv wird. Nicht überstürzt kauft. 

Geduld zahlt sich aus an der Börse!

An der Börse bewegen sich die Kurse meistens außerhalb ihrer fairen Bewertung. Sie sind entweder euphorisch hoch bewertet oder depressiv niedrig. Weil das so ist, ist es eine gute Idee für geduldige Investoren, auf Zeit zu spielen. Der richtige Moment zum Kauf wird kommen. Die richtige Zeit für ein Investment wird kommen. Und bis es soweit ist, ist das proaktivste, was ein Investor tun kann – einfach nichts zu tun. Zu verstehen, dass das keine passive Entscheidung ist, sondern eine sehr proaktive, ist in der Tat eine persönliche Weiterentwicklung. Diese Sichtweise eröffnet denjenigen, die es verinnerlicht haben, völlig neue Möglichkeiten. Damit meine ich nicht nur das Investieren oder den Vermögensaufbau. Wer gelernt hat, abzuwarten und auf den richtigen Moemnt zu warten, in dem er aktiv wird, hat den „Werkzeugkasten“ seiner Möglichkeiten für alle Lebensbereiche extrem erweitert.

Nichts tun an der Börse ist Teil des Risikomanagements!

Was nicht vergessen werden sollte, ist das Risiko. Es geht bei einer Investition oder Spekulation an den Finanzmärkten immer um das persönlich passende Risiko. Die Voraussetzung für Nichtstun an der Börse ist ein funktionierendes Risikomanagement. Das bedeutet, dass ich behutsam mit meinem Kapitaleinsatz umgehe, wenn ich in eine Aktie oder einen ETF investiere. Das bedeutet, dass ich eine Positionsgröße wähle, bei der ich mich wohl fühle – auch wenn die Position sofort 20% oder mehr ins Minus dreht, nachdem ich eingestiegen bin. 

Ein Kollege bei Twitter schrieb kürzlich: „Ich habe in diesem Jahr bereits 20% Plus im Tradingdepot gemacht. Ich bräuchte jetzt eigentlich nichts mehr machen für den Rest des Jahres.“

Richtige Feststellung. Gute Erkenntnis. 20% sind ein Top-Ergebnis für eine Jahresperformance. Aber ist ihm das wirklich bewusst – heute, Anfang März. Und das Börsenjahr ist noch so lang. Die Möglichkeit ist groß, dass er weitere Trades eröffnen wird. Dass er seine eigne Vorgabe nicht einhält. Weil er etwas „tun“ will. Damit begibt er sich erneut ins Risiko. Mit der guten Chance, seine bisherigen Gewinne wieder komplett abzugeben. Ich hoffe, er liest diesen Artikel und macht …. einfach mal gar nichts.

Photo by Drew Coffman on Unsplash

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Investieren ist das neue Trading! Nach 20 Jahren Börse agiere ich gelassener, geduldiger und smarter. Möglich geworden durch eine neue Sichtweise und einen guten Plan. In meinem Blog philosophiere ich regelmäßig über Börse, Finanzen, passives Einkommen, Wissen und Tun, meine Investments, Aktien und langfristigen Vermögensaufbau.

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