Entscheidungen und Urteile – welchen Einfluss hat das unbewusste Denken auf diese Prozesse? John Bargh eröffnet den Lesern in seinem Buch „Vor dem Denken“ eine interessante Sichtweise. Das unbewusste Denken hat viel mehr Einfluss auf unsere Handlungen, als wir annehmen. Und die Sache mit dem freien Willen ist so eine Sache… Zusammenfassung meiner wichtigsten Erkenntnisse.
John Bargh (Jahrgang 1955) ist Professor für Psychologie und Kognitionswissenschaft und Professor für Management an der Yale University. Seine Schwerpunkte liegen bei der Erforschung von unbewussten oder impliziten Einflüssen auf soziales Urteilsvermögen, Motivation und Verhalten. Sein besonderes Interesse gilt die Frage nach dem freien Willen – worum es auch im Buch „Vor dem Denken“ geht.
Konkret stellt er die Leser vor die Frage: Was passiert vor dem Denken? Gibt es ein unbewusstes Denken, welches auf unsere Entscheidungen und Urteile wirkt, das wir nicht wahrnehmen? Grundlage für diese Kernfrage ist die Tatsache, dass wir vieles von dem, was wir den ganzen Tag lang tun, nicht bewusst machen. Es entzieht sich quasi unserer Kontrolle. Es findet im Unterbewusstsein statt. Und hat große Auswirkungen auf unsere Entscheidungen und Urteile. Was wäre, wenn wir verstehen, wie das Unterbewusste funktioniert? Was könnten wir daraus für uns gewinnen? Das ist die Hauptfrage des Buches.
Entscheidungen und Urteile: Unser Gehirn agiert in drei Zeitzonen!
Unser Gehirn lebt quasi in drei Zeitzonen – der Vergangenheit, der Gegenwart und der Zukunft. Die Vergangenheit manifestiert sich in Erinnerungen. Diese werden beispielsweise durch Assoziationen ausgelöst. Die Gegenwart umfasst die Dinge, die in diesem Moment unsere Sinne beeinflussen. Unser Gehirn ist so konzipiert, dass wir auf das reagieren können, was gerade passiert. Die Zukunft wiederum beinhaltet Ambitionen, Wünsche und Maßstäbe. Darauf richten wir meistens unsere Aufmerksamkeit. Unsere Handlungen folgen diesen Ambitionen, Wünschen und Maßstäben. Das sind die bewussten Wahrnehmungen der „Zeitzonen“.
Interessant ist, und hier steigt Bargh so richtig ein, dass es diese Zeitzonen auch in der unbewussten Form gibt. Zum Beispiel die unbewusste Vergangenheit: Das sind evolutionär geprägte Erfahrungen, die sich zu automatisch ausgeführten Aktionen entwickelt haben über viele Generationen und woran wir natürlich keine Erinnerung haben können. Beispiel: Ein Bus fährt auf einen zu und man springt automatisch (unbewusst) zur Seite. Die unbewusste Gegenwart ist besonders perfide. Auch hier nehmen wir an, dass wir bei unseren Entscheidungen und Urteilen in der Gegenwart rational vorgehen. Die schlechte Nachricht ist, dass auch hier die unbewusste Gegenwart im Spiel ist. Unser Einkauf im Supermarkt und das, was wir dort kaufen, entscheiden wir nur zum Teil bewusst. Die unbewusste Zukunft, dass ist das, was wir uns für unsere Zukunft wünschen. Diese Wünsche üben eine ungemeine Macht auf unser Verhalten aus. So suchen wir uns beispielsweise unbewusst Freunde, die zu unseren Zielen passen. Ist man auf Spaß aus, sucht man sich diese Gruppe, will man Erfolg, dann die entsprechende Gruppe.
Der Priming-Effekt spielt eine große Rolle bei unserem Handeln. Von klein auf prägen unsere Alltagserfahrungen unser Verhalten. Stereotype und Anschauungen werden zur zweiten Natur und verankern sich fest im Unterbewussten, selbst wenn wir bewusst behaupten, dass sie bei uns nicht existieren. Bargh nennt das „verborgene Vergangenheit“.
Entscheidungen und Urteile: Unser Gedächtnis ist fehlbar!
Er kommt zu der Erkenntnis, dass unser Gedächtnis also fehlbar ist. Es ist nicht die objektive Videoaufnahme der Realität, für die wir es manchmal halten oder die wir uns wünschen. Unser Gehirn lässt sich bisweilen von unseren jüngsten Erfahrungen täuschen, aber auch dadurch, dass unsere Aufmerksamkeit selektiv ist und die Dinge, denen wir unsere Aufmerksamkeit widmen, in unserem Gedächtnis gespeichert werden. Wobei neue Erfahrungen und Erlebnisse in unserem Gedächtnis stärker wirken als länger zurückliegende! Wir widmen manchen Dingen Aufmerksamkeit und anderen nicht. Darüber hinaus sind die Dinge, denen wir Beachtung schenken, wichtiger für uns als andere.
Worauf ich mich geistig konzentriere, bestimmt die Dinge, denen ich Aufmerksamkeit schenke. Neue Strömungen, die den Erfahrungsfluss umleiten, setzen einen Domino-Effekt in Gang und es werden andere Dinge als zuvor wichtig. Folglich schenkt man diesen anderen Dingen Beachtung, was dazu führt, dass man sich später anders erinnert, was wiederum die eigene Haltung zu bestimmten Themen verändert.
Entscheidungen und Urteile: Unser Bauchgefühl ist (manchmal) ein guter Ratgeber!
Die altbekannte Frage, warum und wann du auf dein Bauchgefühl hören kannst, kommt bei John Bargh auch nicht zu kurz. Für einen Psychologen, der sich auf das Unterbewusste konzentriert, ist dieses Thema Pflicht. Er schreibt dazu, dass das Bauchgefühl quasi Ausdruck unseres Unterbewusstseins ist. Deshalb können wir auch oft nicht genau benennen, warum wir eine Entscheidung gefällt haben, wenn wir nach dem Bauchgefühl handeln. Manchmal ist es gut, unserem Bauchgefühl zu trauen und manchmal nicht. Das Bauchgefühl nicht anzuzweifeln, kann manchmal dazu führen, dass wir mächtig daneben liegen. Wie können wir also mit unserem Bauchgefühl umgehen?
Die Regeln für den richtigen Gebrauch des Bauchgefühls fasst Bargh wie folgt zusammen:
- Das Bauchgefühl mit bewussten Überlegungen absichern, wenn Zeit bleibt. Bewusstes und unbewusstes Denken haben unterschiedliche Stärken und unterschiedliche Schwächen. Prüfen Sie, was Sie tun, wenn Sie können!
- Wenn keine Zeit bleibt, gilt folgendes: Für kleinere, nicht so bedeutende Ziele besser keine großen Risiken eingehen, wenn keine Zeit zum Nachdenken bleibt.
- Wenn du denkst, dass du nur heute die Gelegenheit hast, eine Aktie zu kaufen, diesen Kauf aber nicht vorher prüfen kannst, dann kaufe nicht. Wer eine Entscheidung von Tragweite nicht sorgfältig prüfen kann, weil er keine Zeit dazu hat oder unter Druck gesetzt wird (sich setzen lässt), der sollte lieber gar nichts tun.
- Bei komplexen Entscheidungen mit vielen Faktoren (vor allem ohne objektive Messwerte), dann das Bauchgefühl ernst nehmen.
Der letzte Punkt klingt etwas widersprüchlich. Aber Bargh stellt fest und empfiehlt, dass unbewusste Entscheidungen oft besser sind, wenn es sich um ein komplexes Urteil handelt und viele verschiedene Dimensionen oder Aspekte kombiniert und mit einbezogen werden müssen. Die Komplexität einer Überlegung kann oftmals vom Bauchgefühl intuitiv besser und schneller erfasst werden. Die Ergebnisse von Handlungen, die sich daraus ergeben, sind nachgewiesenermaßen nicht schlechter als die Ergebnisse, die durch zeitraubende Tests erzielt werden.
Weil sich unser bewusstes Denken nur auf wenige Aspekte gleichzeitig konzentrieren kann (die Aufnahmefähigkeit ist begrenzt und im übrigen nimmt die Leistung des Gehirns bei schwierigen Denkprozessen im Laufe des Tages ab), bleiben andere relevante Aspekte unberücksichtigt und haben nicht den Einfluss, der ihnen gebührt. Bewusstes Denken ist begrenzt, was die Komplexität betrifft, die es in einem gegebenen Moment erfassen kann.
Ein Verweis zur Börse von mir: Erfolgreiche Daytrader mit sehr viel Erfahrung, die in einem sehr kurzfristigen Zeitfenster agieren, haben natürlich einen Plan mit festen Regeln für Ein- und Ausstiege bei Trades. Aber sie müssen manchmal unterbewusst schnelle Entscheidungen treffen und weil diese zu komplex sind für die Momentaufnahme, übernimmt das Bauchgefühl das Steuer.
Bewusste Prozesse sind dann besser als unbewusste, wenn es eine Regel einzuhalten gilt. Und das Börsengeschäft, wenn es professionell betrieben wird, ist nichts anderes als das Befolgen eines Regelwerks. Ähnlich der Vorgehensweise eines Piloten.
Unser Bauchgefühl ist kein starres, unveränderliches System. Aktuelle Ziele verändern auch unser Bauchgefühl: Deshalb muss man vorsichtig sein mit dem, was man sich wünscht. Das Unbewusste, was im Gehirn auf unsere Denkprozesse wirkt, erkennt deine wichtigsten Ziele daran, wie oft du bewusst an sie denkst und wie viel Zeit und Mühe du für sie aufwendest. Man muss aufpassen, was man denkt, wie oft man daran denkt und mit welcher Intensität man daran denkt.
Denn unser Gehirn schafft es auch spielend, sich Werte, Gefühle und Entscheidungen und die wichtigsten Ziele so zurechtzubiegen, wie sie der Erreichung dieser Ziele am dienlichsten sind. Die Folge: Ansichten und Einstellungen können sich in einigen Punkten radikal ändern.
Wie man Entscheidungsprozesse optimieren kann, kannst du in diesem Artikel lesen.
Gibt es einen freien Willen?
John Bargh schreibt sinngemäß, ja – aber er ist nicht so frei, wie wir glauben! Wir müssen anerkennen, dass wir nicht alles unter Kontrolle haben. Macht man sich das bewusst, ist es einfacher, das Unterbewusste zu „kontrollieren“. Mit dieser Akzeptanz, keine komplette, bewusste Kontrolle zu haben, nimmt der wirklich vorhandene freie Wille zu. Das ist paradox, passt aber zu vielen ähnlichen Erkenntnissen, die eher aus dem philosophischen Bereich bekannt sind. Dort gibt es ja zum Beispiel auch bei den fernöstlichen Philosophien die Sichtweise, dass je mehr du etwas willst, sich das Gewollte umso weiter von dir entfernt.
Im Börsengeschäft habe ich oft den Spruch gehört, dass es nicht in erster Linie ums Geld geht. Anfangs habe ich darüber gelacht, aber mittlerweile lache ich nicht mehr. Erst als ich aufgehört habe, meine Trades und Investments nach dem Gedanken auszurichten, dass ich möglichst viel Geld damit machen will, wurde meine Performance nachhaltig besser. Je weniger ich beim Handeln an der Börse an das Geld dachte, dass ich machen kann, desto erfolgreicher wurde ich.
Der nützliche Nebeneffekt davon ist übrigens, dass ich immer zuerst daran denke, was ich verlieren könnte, wenn ich eine neue Position eröffne. Ich habe mir unabsichtlich – durch diese Philosophie oder Denkweise inspiriert – angewöhnt, zuerst auf das Risiko zu achten, also den möglichen Verlust, und den Gewinn auszublenden. Gewinne mache ich automatisch, wenn ich auf mein Risiko achte.
Zurück zu John Bargh und meinen Erkenntnissen aus seinem Buch „Vor dem Denken“. Wenn wir bereit sind, nicht alles kontrollieren zu wollen und Entscheidungen und Urteile an die unbewussten Ströme im Gehirn abzugeben, fokussieren wir uns besser auf unsere bewussten Ziele und erreichen diese leichter. Dabei helfen Gewohnheiten. Denn diese nehmen uns das bewusste Denken ab. Wenn (positive) Aktivitäten zu Gewohnheiten werden (zum Beispiel regelmäßig Sport oder die berühmt-berüchtigte kalte Dusche frühmorgens,) machen wir diese ohne nachzudenken und haben mehr freie Hirnkapazitäten für kreative Gedankenprozesse.
Meine Learnings aus dem Buch „Vor dem Denken“:
- Überlege dir gut, welche Infos du aufnimmst und in welcher Reihenfolge! Wenn du bei Instagram und Co. permanent von der gleichen Aktie liest, nimmst du sie schnell als tolle Option wahr. Dein Unterbewusstsein sagt dir, dass das ein toller Kauf sein muss. Deshalb schalte diese Infos am besten komplett aus oder unterziehe der Aktie alternativ einer individuellen Prüfung nach eigenen Kriterien.
- Die Ziele für die Börsengeschäfte genau festlegen: Ist es dein Ziel, schnell reich zu werden, dann legt sich dein Unterbewusstsein darauf fest. Die Gefahr dabei ist, dass du zu viele Risiken eingehst (und mit großer Wahrscheinlichkeit Geld verlieren wirst).
- Eine Routine (Gewohnheit) hilft bei der richtigen Aktienauswahl. Heißt, du verwendest immer die gleichen Kriterien für das Prüfen eines Unternehmens. Und du bestimmst dein maximales Risiko bei jedem Investment.
- Höre auf dein Bauchgefühl: Wenn es dir sagt, dass etwas nicht stimmt (z.B. aktuelle Marktsituation, gefühlt zu hohe Kurse, hoch bewertete Unternehmen), dann höre darauf. Aber prüfe dein Bauchgefühl, bevor du handelst.
- Vergiss nie, dass alles, was du denkst, komplett falsch sein könnte. Durch diese konträre Sichtweise kannst du dein bewusstes und unbewusstes Handeln regelmäßig auf die Probe stellen. Paul Tudor Jones hat dazu ein paar sehr interessante Sichtweisen geäußert, die du hier lesen kannst.
- Bewusste Prozesse sind dann besser als unbewusste, wenn es eine Regel einzuhalten gilt.
Abschlussfrage: Können bewusste und unbewusste Denkprozesse, die unabhängig voneinander operieren und permanent Entscheidungen und Urteile treffen, zusammenarbeiten?
Bargh schreibt hier eindeutig: Ja! Mit der wichtigen Ergänzung: Eine Kombination beider Prozesse ist am besten – und zwar in dieser Reihenfolge: erst die bewussten, dann die unbewussten.