Disruption – damit ist der disruptive Wandel gemeint, der in vielen Bereichen immer schneller Fahrt aufnimmt.Wie sieht es in der Finanzbranche aus? Verändern die Möglichkeiten, die KI, Machine Learning und Big Data bieten, den Börsenhandel nachhaltig oder sind sie nur Ergänzung zum bisherigen Ablauf?
Themen wie Big Data, Künstliche Intelligenz (KI) und Machine Learning sind in den Fokus vieler Menschen gerückt. Wie schon oft in der Vergangenheit ist der Finanzsektor einer der ersten, der von neuen Entwicklungen profitieren kann und diese deshalb vorantreibt. Der Finanzmarkt war es, der das Internet als erster Sektor überhaupt professionell nutzte, um Services zu verbessern, Ineffizienzen zu verringern und den Zugang zum globalen Markt auch für Kleinanleger überhaupt erst ermöglichte. Ich erinnere mich noch gut an den Moment, als ich bei meiner damaligen Depotbank nicht mehr anrufen musste, um eine Kauforder über Aktien aufzugeben (wie Aktienhandel früher funktionierte, kannst du in diesem Artikel lesen), sondern das Ganze online erledigen konnte. Das war die Zeit, als mit der Consors die erste Direktbank in Deutschland startete. Das ist etwas über 20 Jahre her. Keine so lange Zeitspanne, wenn man es nüchtern betrachtet. Fakt ist: Der Finanzsektor hatte und hat bei neuen Technologien durchaus den Status eines early adaptors inne.
Disruption: Der Finanzsektor als early adaptor
Der Grund dafür ist klar, denn Banken, Investmentgesellschaften und Börsen sind prädestiniert dafür, Künstliche Intelligenz (KI) einzusetzen, denn sie arbeiten mit großen Zahlenreihen, die blitzschnell verarbeitet werden müssen. Des weiteren gehört zum Tagesgeschäft der meisten Banken die regelmäßige Erstellung von Analysen und Marktprognosen. KI kann diese schneller und vor allem kostengünstiger erstellen und verarbeiten. Außerdem kommt es beim Einsatz von KI zu keinen emotionalen Einflüssen seitens der beteiligten Personen. Denn der größte Unsicherheitsfaktor im Börsenhandel ist ja immer noch der Mensch. Ersetzt man ihn durch pure Rechenleistung, sollte eigentlich unterm Strich ein besseres Ergebnis bei der Performance oder der Vorhersage von Kursen stehen, oder? Hat man als privater Investor oder Trader überhaupt eine Chance gegen Künstliche Intelligenz?
Was kann der Algorithmus besser?
Grob vereinfacht steht hinter dieser Frage folgende Überlegung: In einen Computer werden große Datenmengen und Kursverläufe aus der Vergangenheit eingegeben. Dieser verarbeitet diese Daten und generiert daraus Muster, die zu automatisch generierten Entscheidungen über Käufe und Verkäufe von beispielsweise Aktien führen. Je mehr Daten und je mehr Versuche man dem Computer zur Verfügung stellt, umso größer wird seine Zuverlässigkeit bei den Vorhersagen. Diesen Prozess nennt man Machine Learning. Mittlerweile arbeiten große Investmentfonds und -abteilungen der Banken mit Computern, die während der Datenverarbeitung eine Lernkomponente dazu nehmen und dadurch immer besser, schneller und effizienter werden. Sie werden sogar schon dafür benutzt, um anhand von Zahlen, die zum Beispiel im Quartalsbericht eines Unternehmens veröffentlicht werden, Pressemitteilungen zu verfassen. Und das gar nicht so schlecht, wie man zum Beispiel auf www.zacks.com sehen kann. So schnell kann selbst ein vierhändiger Wirtschaftsjournalist nicht tippen, wie ein Bot eine Pressemitteilung veröffentlicht. Bots kommen auch beim Platzieren von Orders zum Einsatz. Kein mühsames Eintippen von Zahlen, Stückzahlen und Börsenplätzen mehr – der Bot platziert den Auftrag und die Order wird ausgeführt. Der Clou dabei: Der vom Bot genutzte Algorithmus nutzt selbst die auftretenden Fehler (und es treten aktuell noch genügend Fehler auf), um daraus die nötigen Informationen zu entnehmen, damit es beim nächsten Mal besser funktioniert. Eine Lernkurve, die scheinbar nie endet.
Dieses maschinelle Lernen ist es, was dem Algorithmus einen enormen Vorteil gegenüber Otto Normalanleger bescherrt. Die Schnelligkeit, mit der ein Algorithmus lernt, ist im Vergleich zum Menschen atemberaubend. Es gibt derzeit noch diverse Anfälligkeiten im praktischen Einsatz, aber es dürfte nur eine Frage der Zeit sein, bis Trading in der Form, wie wir sie kennen, ausgedient hat. Es ist die schiere Menge an Möglichkeiten, die der Algorithmus zur Auswahl hat und aus der er in Sekundenbruchteilen die für die Situation passende herausfiltert, die dazu führt, dass der Mensch an seine Grenzen gelangt.
Trading vs. Investieren: Der Mensch macht den Unterschied!
Was heißt das für den Privatanleger? Aus meiner Sicht ist die Antwort ganz einfach: Trading macht keinen Sinn mehr. Wo man früher mit einer smarten Vorgehensweise und vor allem einer rigorosen Risikokontrolle noch halbwegs gut bei der Performance abschneiden konnte, sind die Tage der reinrassigen Trader gezählt. Folgerichtig können wir uns auf den viel spannenderen Teil konzentrieren – dem Investieren in einzelne Unternehmen, die an der Börse notieren. Denn da KI zwar wunderbar und blitzschnell Datenmengen erfassen, verarbeiten und auswerten kann, kann sie nicht den Unternehmenszweck bewerten oder die gesellschaftlichen Begleitumstände, die eben auch die Finanzmärkte beeinflussen.
Das bedeutet, dass wir durchaus die Kraft und Geschwindigkeit von Künstlicher Intelligenz, Machine Learning und Big Data nutzen sollten, wenn es um die Auswertung von Daten geht, um beispielsweise die fundamentale Situation eines Unternehmens bewerten zu können. Wir sollten aber zusätzlich unsere menschliche Intelligenz und unser „Bauchgefühl“ in eine Gesamtbewertung einbeziehen. Ja, richtig gelesen – ich halte sehr viel von Bauchgefühl, also zumindest von meinem. Ich habe in der Vergangenheit oft die Erfahrung gemacht, dass ich „gefühlt“ habe, ob ich mit meinem Investment richtig liege oder falsch. Dafür gibt es keine logische Erklärung. Das ist eines der Geheimnisse, die im Menschsein inbegriffen ist. Dieses instinktgesteuerte Gefühl – wahrscheinlich eine Mischung aus den gesammelten menschlichen Erfahrungen aus hunderten Generationen, eine Art „Über-Gen“ der ganzen Menschheit –, dieses Gefühl kann aktuell kein Bot und kein Algorithmus berechnen. Das ist wahrscheinlich auch gut so, oder?
„Wenn die Wissenschaft Recht hat und unser Glück durch unser bio-chemisches System bestimmt wird, dann lässt sich dauerhafte Zufriedenheit allein dadurch garantieren, dass man dieses System beeinflusst. Vergessen Sie Wirtschaftswachstum, Sozialreformen und poslitische Revolutionen – um das globale Glücksniveau zu steigern, müssen wir die Biochemie des Menschen manipulieren. Genau damit haben wir in den letzten Jahrzehnten bereits begonnen.“
Yuval Noah Harari „Homo Deus“
Welchen Stellenwert haben ethische Maßstäbe bei der Disruption?
Postulate wie dieses findet man viele in Yuval Noah Hararis Buch „Homo Deus“. Nach der Lektüre der 570 Seiten hat man definitiv einen anderen Blick auf das aktuelle, technologie-getriebene Geschehen und die Zukunft. Harari entwickelt aus einer Kernfrage heraus eine Vielfalt von Möglichkeiten und untersucht jede einzelne auf ihre Machbarkeit und ihre ethisch-moralische Komponente.
Diese Kernfrage lautet: Wie schafft es homo sapiens, sich so weiterzuentwickeln, dass er mit seiner heutigen Version nicht mehr zu vergleichen ist? Nachdem Hunger, Kriege und Krankheiten beherrschbar geworden sind, ist das laut Harari die nächste Aufgabe, der sich der Mensch stellen wird. Doch wie verträgt sich eine solche Entwicklung mit der Idee des Humanismus? Welchen Stellenwert hat Ethik bei der Entwicklung von Technologien, die aus dem homo sapiens einen veritablen homo deus schaffen könnten? Sind diejenigen, die die Zukunftstechnologien erforschen, die Entdecker einer besseren Welt oder müssen wir jetzt und sofort regulatorisch eingreifen, bevor das Rad – einmal in Schwung gekommen – nicht mehr zu stoppen ist?
Harari stellt diese Fragen und liefert viele Antworten. Das macht er, indem er dieses schwierige Thema in wunderbar erzählte Geschichten verwebt. Sein Ton ist der eines Fachmannes, aber seine Schreibe ist die eines bescheidenen Experten, der komplizierte Dinge so erzählt, dass jeder Interessierte sie verstehen kann. Harari lässt auch genügend Platz, damit der Leser sich eigene Gedanken machen kann. Er begleitet seine Leser durch die Geschichte und eröffnet ihnen neue Denkweisen, so als würde er sagen: „Verändere deine Sichtweise! Betrachte das Thema einmal von einer ganz anderen Seite? Öffne dich für neue Möglichkeiten und Perspektiven.“ Das hat letztendlich noch niemandem geschadet.
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